Die Geschichte unserer Familie, die seit vier Generationen in Deutschland lebt, wurde durch eine Wahl auf den Kopf gestellt.
Mein Großvater kam 1965 als “Gastarbeiter” hierher. Mein Vater wurde hier geboren, ich wurde hier geboren, und meine Tochter wurde auch hier geboren. In unserem Viertel in Krefeld kennt uns jeder, weil wir Geschäftsleute sind. Der Lebensmittelladen, den ich von meinem Vater übernommen habe, steht immer noch an der Straßenecke.
Als die Wahlergebnisse verkündet wurden, erstarrten wir vor dem Fernseher. Ich hielt Sevdes Hand fest. Sie ist dreizehn Jahre alt und besucht eine deutsche Schule. Letzte Woche hatte ihre Lehrerin sie zur “besten Schülerin” gewählt.
“Papa,” fragte Sevde, “müssen wir auch gehen?”
Ich konnte nicht antworten. Mir schnürte es die Kehle zu. Gestern auf der Straße wandte Frau Weber, mit der ich mich jahrelang gegrüßt hatte, den Kopf ab. Die Zahl der Kunden in meinem Laden nimmt ab. In den sozialen Medien sehe ich Nachrichten wie “Jetzt seid ihr dran”.
Neue Gesetze kommen Schlag auf Schlag. Erst sprachen sie von “speziellen Steuerregelungen für Bürger mit Migrationshintergrund”. Dann kam die Pflicht zum “kulturellen Anpassungstest”. Für die Lizenz meines Ladens verlangen sie jetzt zusätzliche Dokumente. Jeden Monat ein neues Formular, eine neue Verpflichtung.
Nachts kann ich nicht schlafen. Bei jedem Klingeln schrecke ich auf. Die Erneuerung unserer Aufenthaltserlaubnis steht an. Nach den neuen Kriterien könnten wir die “wirtschaftliche Tauglichkeit” nicht erfüllen. Der Umsatz des Ladens ist zurückgegangen.
In Sevdes Schule haben sie “Staatsbürgerschaftsbewertungstests” eingeführt. Verpflichtend für jeden Schüler mit Migrationshintergrund. Meine Tochter kam gestern weinend nach Hause: “Warum müssen nur wir diese Prüfung machen?”
Die neue Bildungspolitik der AfD hat eine “Migrantenquote” an Schulen eingeführt. Sie wollen Sevdes Klasse wechseln. “Zum Schutz der Bildungsqualität deutscher Schüler”. Dabei war sie Klassenbeste.
Meine Freunde in den Moschee- und Aleviten-Vereinen sind besorgt. Im Parlament wird das “Religionsgemeinschaftsgesetz” diskutiert. Überwachungskameras in Gebetshäusern, vorherige Genehmigung von Predigten, Meldepflicht für Gemeindemitglieder…
Meine Frau Ayşe flüstert mitten in der Nacht: “Sollen wir meinen Cousins in der Schweiz schreiben?” Das neue “freiwillige Rückkehrförderungspaket” wurde angekündigt. Sie würden 10.000 Euro für die Rückkehr zahlen. Das Wort “freiwillig” macht mir Angst. Was, wenn es morgen “verpflichtend” wird?
“Kontrollen für ausländisch benannte Betriebe” wurden eingeführt. Letzten Monat kamen dreimal Inspektoren in den Laden. Jedes Mal fanden sie neue Mängel. Strafen folgen aufeinander. Sie sagten mir, ich solle die türkischen Produktetiketten entfernen. Es gäbe jetzt eine “Nur-Deutsch-Regel”.
Meine Hände zittern, wenn ich morgens den Laden öffne. Ich schaue auf das “Seit 1965” im Schaufenster. Kann unsere achtundfünfzigjährige Familiengeschichte durch eine Wahl ausgelöscht werden?
Abends wird im Fernsehen das “kulturelle Assimilationsprogramm” diskutiert. “Überprüfung des Rechts auf doppelte Staatsbürgerschaft”, “Ende der multikulturellen Politik”, “Schutz nationaler Werte”… Jede neue Politik drängt uns weiter in die Ecke.
Sevdes Pass muss erneuert werden. Im Antragsformular gibt es einen neuen Abschnitt: “Familienherkunftsuntersuchung”. Sie verlangen Informationen über vier Generationen zurück. Was untersuchen sie? Nach welchen Kriterien werden sie bewerten?
In der Nachbarschaft wurde ein “Staatsbürgerschaftskontrollbüro” eröffnet. Wir müssen monatlich Bericht erstatten. Arbeitssituation, Einkommensniveau, soziale Aktivitäten, Gemeinschaften, denen wir angehören… Alles wird registriert.
Das “Willkommen”-Schild an der Tür entferne ich nicht. Ich will, dass es trotzig dort bleibt. Vielleicht kommen eines Tages wieder Zeiten, in denen wir wirklich willkommen sind. Aber vorerst entfremdet uns jedes neue Gesetz, jede neue Regel mehr von diesem Land.
Ich umarme Sevde fest. “Alles wird gut”, sage ich. Aber die Angst in mir erstickt die Worte. Mit welchem neuen Gesetz werden wir morgen aufwachen? Welches Recht werden wir verlieren? Diese Fragen nagen nachts an mir, während ich die Decke anstarre.
Während ich die Rollläden des Ladens herunterlasse, weiß ich, dass Tausende von Ausländern, die seit drei oder vier Generationen in Deutschland leben, mit der gleichen Angst leben.
Wir alle warten schweigend: Was kommt als Nächstes?
Wir alle fühlen uns, als würden wir einen Horrorfilm sehen. Wir kennen nur den Titel des Films nicht!
Auch wenn ich versuche, es vor meiner Tochter Sevde zu verbergen, nagt eine tiefe Sorge an meinem Gehirn.
Nur die jungen Rechtsextremisten kennen den Titel des Films. Aus der Notiz in unserem Briefkasten, mit großen roten Buchstaben geschrieben, erfahren wir den Titel des aufgeführten Films.
“Jetzt seid ihr dran”
(Seb)